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Einflussfaktoren auf den Geschmack

Nicola · Zuletzt aktualisiert: 10.04.2024
Sensorik | Verkostung | Aromen | Wetter | Biodynamie

Der Wein präsentiert sich natürlich auch jedesmal ein bisschen anders, je nach Abfüllung, Reifung, Degorgierdatum etc.

Einflussfaktoren auf den Geschmack
Nicola
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Seit circa zehn Jahren organisiere ich regelmäßig Verkostungen. Die letzten sechs Jahre mache ich diese fast ausschließlich mit Champagnern aus dem Champagne Characters Programm, kenne diese also ziemlich gut.

Unter den Gästen ist immer ein guter Mix aus Weinkennern, Interessierten und absoluten Neulingen.

Zum einen ist zu bemerken, dass sich die Stimmung, die in der zusammengesetzten Gruppe spontan entsteht, auf den Geschmack auswirkt (Leute sind fröhlich, entspannt, gestresst, genervt etc.).

Der Wein präsentiert sich natürlich auch jedesmal ein bisschen anders, je nach Abfüllung, Reifung, Degorgierdatum etc.

Aber dann gibt es bei manchen Proben signifikante Merkmale, die jedesmal von der kompletten Gruppe bemerkt werden (Anfänger und Profis) und die die Verkostung stark beeinflussen:

Z.B. kommt an manchen Tagen die Säure oder das Holz unangenehm stark heraus. Blöderweise war das mal bei einer Probe, die ich zum Thema "Champagner in Holz ausgebaut" organisiert habe. Da waren viele Fans dieser Machart dabei, denen gefielen die Weine an diesem Abend nicht so richtig, auch die nicht, die sie regelmäßig kaufen!

Es gibt da ja die Weinapp "When Wine tastes Best", die auf dem biodynamischen Kalender basiert, die vorraussagt, ob es ein Wurzel oder Blatttag ist (eher schlecht) oder ein Blüten oder Fruchttag (gute Tage). HIER ist sie ganz gut erklärt.

Oben erwähnte Probe fand glaube ich sogar an einem Wurzeltag statt. Ab und zu schaue ich in diese App, richte mich aber nicht danach, sonst könnte ich gar keine Proben machen: die nicht idealen Tage sind in der Überzahl! Als die App noch ganz neu war, schaute ich öfter rein, aber dann war es oft so, dass es eben auch nicht gestimmt hat, bzw. es hat allen geschmeckt inklusive mir, obwohl der Tag nicht ideal war. Also entweder ist die App falsch programmiert, die Berechungen stimmen nicht mehr oder es gibt doch keine Korrelation. Oder die Merkmale kommen mal stärker, mal weniger stark heraus und/oder werden von anderen positiven Faktoren abgemildert (gute Stimmung etc.).

Auch blöd war mal eine Verkostung, ich nenne sie immer "Fettes Brot", da gibt es nur üppige Champagner, ewig lange gereift, höhere Dosage etc. An diesem Tag schmeckte alles "leicht" und alle waren enttäuscht. Ich erlebte es auch so und fühlte mich dann etwas hilfos, weil ich die Weine selbst anders kannte, aber nichts weiter tun konnte - "Sorry stell Dir vor der schmeckt sonst anders..." :)

An einem anderen Abend wiederum dachte ich den Gästen etwas Gutes zu tun und servierte einige der üppigen Vertreter zum Ende hin und an dem Tag kam alles so üppig raus, dass fast alle meinten, "das geht gar nicht, viel zu mächtig..."

Dieses leicht vs. üppig wird ja in dieser App auch gar nicht mit berücksichtigt...

Dann gibt es Tage, da kommt die Frucht besonders gut raus, dass sind die Tage wo ich nach der Verkostung besonders viele Flaschen verkaufe. Einmal war es so intensiv, dass sich alle richtig benebelt fühlten, so betörend war das Geschmackserlebnis. Diese Probe fand nochmal am nächsten und übernächsten Tag statt mit den gleichen Weinen (meine XXL Proben mache ich immer 3x hinter einander). Das Elebnis ist normalerweise drei mal unterschiedlich (auch von den Favoriten).

Das waren jetzt eher extreme Beispiele, die meiste Zeit verlaufen die Verkostungen wie ich sagen würde "normal", d.h. die Gäste habe unterschiedliche Favoriten und die Erfahrungen decken sich mit dem, was ich schon in anderen Proben gehört habe. Gott sei Dank sonst könnte ich überhaupt keine Empfehlungen geben :) 

Was mich jetzt ganz neu beschäftigt:

Mit den neuen Abstandsregeln stelle ich fest, dass den Gästen der Champagner im Gewölbekeller anders schmeckt als im Wohnzimmer oben (im Moment ist es immer in 2 Gruppen aufgeteilt). Ich gehe jetzt nicht auf die berühmte Flugzeugsituation ein, die jeder kennt (HIER für Interessierte). Aber dass der Unterschied in meinen Räumlichkeiten auch so gravierend ist, das hat mich schon etwas erstaunt.

Und dann hatte ich während der sehr heißen Tage in den letzten Wochen das Gefühl, dass der Geschmackssinn der Gäste komplett Karussel fährt. Mehrere Gäste sagten z.B., dass ein im Stahl ausgebauter Chardonnay mit Zero Dosage "süß und zu üppig" geschmeckt hätte, während der im Holz ausgebaute Pinot "super leicht" war. Generell war das Geschmackserleben bei großer Hitze eher negativ oder schwierig. 

Im Sommer erreichen mich auch sehr viel mehr Anfragen nach einem besonders leichten Champagner und bei einem Kunden war es sogar so extrem, dass ihm alles, was länger als 2 Jahre gereift und Dosage enthielt zu "charakterstark" war. Er hat das Üppigkeitsthema wohl stark gespürt. Vielleicht hängt es ja mit der Körperempfindung zusammen. In dem Blogartikel des Weinforums schreibt jemand: "...vielleicht gibt es einen Zusammenhang mit allgemeinen physiologischen Parametern (Glucosespiegel im Blut, Sympathikotonus, Wasserhaushalt etc.) und/oder der aktuellen psychischen Verfassung?" 

Rene Gabriel beschreibt in seinem Blogartikel auch das Phänomen der Wetter-abhängigen Verkostung: "Es war bei Christian Moueix im Pomerol. Auf die doch zu dominanten Tannine der Fassmuster angesprochen berichtete er mir, dass die gleichen Weine gestern viel offener gewesen seien. Heute sei eine Tiefdrucksituation und dies würde die Gerbstoffe komprimieren und härter erscheinen lassen. Zudem würden die Weine in dieser Phase auch merklich mit deren Aromen geizen." 

Ich würde das gerne alles noch besser verstehen, denn ich liebe es Weinempfehlungen zu geben und dabei ins Schwarze zu treffen. 

Aber wie dieser Text schon zeigt, gibt es nicht nur die persönlichen Erfahrungen, die man bislang mit Wein gemacht hat und die daraus resultierende Erwartungshaltung oder Glaubenssätze (Chardonnay mag ich eher nicht etc.), sondern auch noch Klima, Farbe, Glas, Atmosphäre, Psyche... 

Nochmal Rene Gabriel: "Für mich ist Genuss die intensivste Form der körperlichen Wahrnehmung. Dies wiederum korreliert mit einer nicht übertriebenen Erwartungshaltung. Das ist sehr, sehr wichtig, sonst ist der Frust schon vorprogrammiert. Wir leben leider heute in einer Welt der Erwartungsinflationen." 

Ein weiterer Autor des Weinforum schreibt: Der menschliche Geruchs/Geschmackssinn ist kein präzises Messinstrument (auch wenn viele Profiverkoster so etwas vorgeben), sondern dient der optimalen Versorgung des Körpers mit Nahrung. Also die Unterscheidung zwischen Nahrhaft - Ungenießbar - Schädlich. Dabei hängt die Wahrnehmung eben auch mit den aktuellen Notwendigkeiten zusammen. Dass man nach längerer körperlicher Anstrengung Appetit auf Süßes hat (und das dann auch besser schmeckt), ist klar. Oder Appetit auf Salziges nach Salzverlusten durch intensives Schwitzen. Da könnte ich mir schon vorstellen, dass die Sensorik je nach aktueller Notwendigkeit (hungrig oder satt, Ruhezustand oder Aktivität etc.) anders reagiert bzw. sogar reagieren muss. Vielleicht ist der Schlüssel für den optimalen Weingenuss, dass man lernt, auf den Körper zu hören und danach auszuwählen."

Letzteren Satz finde ich super, vielleicht verrät einem der Körper jeweils, was er gerne hätte. Wobei das nicht bei Verkostungen hilft, die vorher bereits feststehen. 

Wein bleibt einfach eines der phaszinierendsten Themen überhaupt, gerade weil es nicht greifbar ist und weil die Momente, wenn plötzlich alles perfekt ist, vielleicht ein Leben lang in Erinnerung bleiben. Und dazu muss es kein 300€ Wein sein, es hängt eben von ganz vielen Faktoren ab. 

Für mich ist es mit am wichtigsten, dass ich den Wein mit Menschen trinke, mit denen ich mich wohlfühle. Die Diskussion wird diesbezüglich weitergehen, ich hatte am Tag dieses Blogartikels auch einen Aufruf bei Facebook eingestellt, da kamen auch sehr interessante Hinweise: https://www.facebook.com/nicola.neumann1/posts/10158646711466796 

Viel Freude und viele Champagnermomente wünscht Nicola Neumann